FAZ-Portrait vom 2. Oktober 2016


SONNTAG, 02. OKTOBER 2016

 

RHEIN-MAIN ZEITUNG

 

 

 

                                                         Ein Leben im Fluss

 

 

                                                                 Immer mit der Ruhe, außer manchmal.

 

                                                               Rolf Weber

 

                                             lehrt seit Jahrzehnten Tai-Chi und hat am Klavier den Blues. 

 

                                                                              Von Klaus Kühlewind

 

 

 

Der Satz fällt beim Plaudern über den Lebensweg. Taxifahren sei für ihn immer Teil einer Übung gewesen, sagt Rolf Weber. Vor mehr als 40 Jahren, als Lehramtsstudent für Sport und Sozialkunde, hatte er einen Traum, der mit dem Dienst in einer Schule nichts zu tun hatte, und diesen Traum finanzierte das Taxifahren. Auslöser dafür waren eine Fernsehserie mit einem Kung-Fu-Priester als Hauptdarsteller und später eine Begegnung. Die Folge: Rolf Weber gründete zu Beginn der achtziger Jahre in Frankfurt eine Tai-Chi-Schule, sie gehört zu den ältesten im Land.

 

Es war die Zeit des Auf- und des Umbruchs, doch Rolf Weber stand nicht mittendrin in den Revolten der Achtundsechziger. Ihn zog es nicht auf die Straße, sondern in die Ferne. 1974 reiste er in die Vereinigten Staaten von Amerika, wo er ein Jahr lang blieb. Zurück in Deutschland, galt es, die eigene Zukunft zu packen. „Ich war immer sportlich, also suchte ich einen Job, wo ich das Sportliche mit einbringen konnte. Und ich hatte das Gefühl, ich brauche Freizeit.“ Die Entscheidung war einfach: „Ich habe angefangen, Sport zu studieren.“ Denn als Sportlehrer, habe er gedacht, werde er viel draußen sein, Bewegung haben und Ferien. Das Wort Ferien betont er bei diesem Rückblick wie einen von ihm hoch geschätzten Titel von Tom Jones, Sexbomb.

 

Das Studium mit dem Zweitfach Sozialkunde begeisterte ihn trotzdem nicht, bald ließ er es schleifen und verdiente sich den Lebensunterhalt, wie so viele damals, mit Taxifahren. Bis es zu der Begegnung kam, die seinem Leben eine neue Richtung gab und zu neuer Fahrt verhalf. Bei einer Vorführung fernöstlicher Kampf- und Bewegungskunst lernte er Chee Soo kennen, einen Briten, der nach Frankfurt gekommen war, um das altchinesische Tai-Chi zu demonstrieren, die Kampfkunst, die manchmal auch als Schattenboxen bezeichnet wird.

 

Soo flog nach Hause, einen seiner Schüler ließ er in Frankfurt zurück, um Interessierten Unterricht zu geben. Der Sportstudent Weber war wie ein Schwamm, sog alles auf und bekam alsbald von seinem ersten Lehrer die Aufforderung: „Geh nach England, geh zu Chee Soo, damit du in die Künste reinkommst.“ Und Weber ging für ein erstes Jahr nach London.

 

Von da an klebte er seinem Meister an den Fersen. Jeden Abend gab es vier Stunden Unterricht, er folgte Chee Soo zu Vorführungen und Lehrgängen quer durch Großbritannien. Zwischendurch kam er heim, um Geld zu verdienen, hinter dem Steuer, mit Personenbeförderung. Das Taxifahren war nicht mehr nur Broterwerb, es wurde für Weber zum Bindeglied zur Lehre seines Tai-Chi-Meister, zum Vehikel, ihre Gültigkeit im Alltag zu überprüfen. Chee Soo stehe für die taoistische Richtung, dafür, dass alles im Fluss sei, sagt Weber. Und das Taxifahren habe ihm gezeigt, „dass die soeben getroffene Entscheidung entscheidend ist dafür, wie die nächsten Momente verlaufen“. Ein Beispiel nennt er auch: „Wenn du frei bist und auf eine Ampel zufährst, die gerade gelb wird, gibt es zwei Möglichkeiten: Du bremst, oder du fährst durch. Je nachdem wird der Abend einen ganz anderen Verlauf nehmen. Bremst du, bist du vielleicht nicht mehr der Erste am Halteplatz. Dann kommt eben ein anderer Gast, und der will wo ganz anders hin, als ein anderer gewollt hätte.“

 

Während Weber das sagt, macht er mit den Händen fließende Bewegungen wie bei einer seiner Übungen. „Du bist immer eingebunden in Läufe. Du kannst ja den Lauf nicht anhalten.“ Das Taxifahren war für ihn wie das ganze Leben in einem kleineren Format, jeder Augenblick entscheidend für den nächsten. „Biegst du rechts ab, wird sich alles ganz anders entfalten, als wenn du links abbiegst.“ Und damit waren die vielen Stunden am Lenkrad für Weber Übungen.

 

Den Anstoß, der seinen Lebenslauf umkrempelte, bekam Weber dann aber von der Uni, wo seine Beschäftigung mit Tai-Chi nicht verborgen geblieben war. Es gab Gespräche, kleine Vorführungen, Weber gab erstmals Unterricht in Tai-Chi und Qigong. Zu dieser Zeit zog auch seine Freundin nach Deutschland, die er in England kennengelernt hatte. „Ja, sie war bald schwanger, und damit waren alle Pläne hinfällig. Wir wollten eigentlich nach Amerika und durch die Gegend ziehen.“ Heute sagt Weber, er habe damals nicht gewusst, was er tun solle. Er fuhr weiter Taxi und begann zugleich, Tai-Chi zu unterrichten. Ein Woche lang zog er durch Frankfurt und gab Schnupperstunden. Viele wollten jedoch mehr als schnuppern. „Da kamen so viele Leute, die dann auch Kurse besuchen wollten, dass ich von da an nur noch Kurse gegeben habe.“ Zwei Jahre lang gab er seine Stunden an verschiedenen Orten, in einer Judo-Schule, bei einer Psychologin in der Praxis, im Musikraum einer Schule, die junge Familie musste ernährt werden.

 

Tai-Chi oder Taijiquan, in der traditionellen Form eine Abfolge feststehender Übungen, ist mit einem Satz nicht zu beschreiben. Es ist Bewegung, ist ertüchtigend, hat etwas Meditatives, taugt zur Selbstverteidigung. Die Ursprünge liegen in der Kampfkunst, worauf auch das häufig genutzte Synonym Schattenboxen schließen lässt. Denn aus vielen Elementen einer Bewegung lassen sich Schläge und Griffe ableiten, mit denen ein Angreifer abgewehrt werden kann.

 

Nachdem er eine Weile wandernd seine Kunden unterrichtet hat, eröffnete Weber schließlich eigene Räume. Sein Quartier an der Frankfurter Kiesstraße nahe der Bockenheimer Warte, die „Schule für altchinesische Bewegungskunst, Atmung und Meditation“ hat in den vergangenen drei Jahrzehnten viele Frauen und Männer kommen und gehen gesehen. Von klassischen Bewegungsabläufen, wie sie zuhauf in Büchern, auf CDs und in Videoclips vorexerziert werden, hält Weber nicht sehr viel, vor allem nicht für den Anfang. „Ich gehe da nicht genau nach einer Form, weil die Leute sich sonst viel zu sehr anspannen.“ Sie seien dann immer darauf konzentriert, wie die nächste Bewegung zu gestalten sei. „Das blockiere so viel Energie. Wenn ich aber gelöst bin, wenn ich es gar nicht mehr will, steckt die meiste Kraft drin, weil das Chi dann da ist“, sagt Weber. Und lässt währenddessen erst seine Faust und dann die Finger auf eine Art fließen, dass die sagenumwobene Lebensenergie Chi Form anzunehmen scheint.

 

Was erlebt einer bei Weber beim Tai- Chi? Wer die Augen schließt und sich gemäß seinen Worten bewegt, wird schon nach einigen Stunden sein Tempo reduzieren können und beginnen, Bewegungen zu fühlen. Es ist ein Eintauchen in gelebte Zeitlupe. Und wie ein guter Wein seinen Geschmack entfaltet, wirkt auch Tai-Chi in vielfältiger Weise. Es schult Beweglichkeit und innere Ruhe, baut Stress ab und kräftigt die Muskulatur. Und manchmal mutet es an, als habe sich die Gruppe zu einer Meditation mit ganz sanften Bewegungen vereint.

 

Doch genau dieses Lockersein und Fließenlassen ist im Alltag nur schwer aufrechtzuerhalten. Dass das so ist, hat für Weber eine gesellschaftliche Dimension. „Unser System ist aufgebaut nach der Devise: Reiß dich zusammen, und mach was, du schaffst das“, sagt er. „Es sei ein permanentes Kräftemessen, entweder mit Körper- oder mit Willenskraft.“

 

Weber setzt da mehr auf taoistische Prinzipien, geht lieber mit dem Fluss, lässt Dinge sich entwickeln. „Die taoistische Herangehensweise ist doch viel gesünder. Nicht nur über die Gelöstheit sprechen, sondern sie erfahren, auch in der Bewegung.“ So versteht er Tai-Chi. Ein reines Nachempfinden tradierter Formen habe nichts von fließender Gelöstheit. Schließlich sei sein Übungsraum keine Bühne. Wer bei ihm Tai-Chi lernen und üben möchte, solle sich bitte nicht selbst darstellen wollen. Und wer gucken möchte, ob seine Übungen gut aussehen und die Figuren vermeintlich perfekt sind, solle sich einen anderen Ort suchen, an dem es große Spiegel gibt. Er möchte Tai-Chi nicht reduzieren auf schöne, perfekte Bewegungen. Ihm sind schlappe Bewegungen viel lieber, wenn sie denn Ausdruck einer Gelöstheit sind. „Es geht nicht darum, etwas darzustellen. Gut wird eine Bewegung, wenn Inhalte kommen.“

 

Die Gelassenheit in seinen Kursen hat mitunter nicht nur die Chi-Energie fließen lassen, es sind auch schon Funken geflogen zwischen Teilnehmern. „Ein paar haben schon geheiratet“, sagt Weber. Zu seinen Kursen kommen sehr unterschiedliche Menschen. Es wird nicht viel gesprochen, dennoch entwickele sich während der Stunden ein Zusammenhörigkeitsgefühl, sagt Weber. „Es bilden sich Verbindungen.“ Dass sich Paarbeziehungen ergeben haben, lässt ihn schmunzeln, anderes fesselt ihn regelrecht. „Ich sehe jetzt schon viele Jahre Abend für Abend, wie sich Menschen auf Tai-Chi einlassen, habe mehr als 1000 Kurse gegeben, es ist immer aufs Neue faszinierend.“ Ans Aufhören denkt der mittlerweile Dreiundsechzigjährige nicht.

 

Haben Ärzte und Krankenkassen Tai- Chi vor wenigen Jahrzehnten noch milde belächelt, legen heute viele Orthopäden, Sportärzte und Neurologen ihren Patienten nahe, es doch einmal damit zu versuchen. Die Krankenkassen haben die präventive Wirkung auf den Bewegungsapparat erkannt und gewähren Zuschüsse. So gibt es zum Beispiel zu einem viermonatigen Anfängerkurse zum Preis von 240 Euro je nach Kasse eine Zuwendung zwischen 80 und 150 Euro.

 

Beim Tai-Chi sind Webers Bewegungen fast ruhend. Die andere Seite des Mannes ist ganz anders. Seit Jahrzehnten steht er auf Bühnen in der Region, mal als Solist, mal mit Band. Als er 13 Jahre alt war, bekam er eine Gitarre geschenkt. „Da habe ich ein paar Griffe gelernt und gleich improvisiert.“ Doch dann war erst mal Pause. Als er 32 Jahre alt war, widmete er sich einem anderen Instrument. „Da habe ich angefangen, Klavier zu spielen. Ich wollte unbedingt Blues lernen.“ Zehn Jahre lang nahm er Unterricht, jede Woche Klavierstunden, Blues rauf und runter „und auch ein bisschen Klassik, um die Technik zu verfeinern“.

 

Inzwischen, sagt Weber, könne er keine Noten mehr lesen. Braucht er auch nicht, aber etwas anderes: „Ich brauche immer einen Rahmen.“ Fürs Tai-Chi ist es sein Raum, für die Musik eine Komposition. Doch an der hält er nicht fest. „Wie ich Akkorde lege, ob und wie ich Soli spiele, alles ist immer in dem Moment.“ Dazu habe er das Vertrauen, und er sei froh, diese Gabe zu haben. Zwei bis drei Auftritte im Monat, früher viel mit Band, inzwischen meist zu zweit. The Bluesman nennt er sich als Musiker, seine Auftritte kündigt er auf einer Homepage selben Namens an. Am 16. Oktober spielt er im Brückenkopf in Hanau, am 19. November im Adlerhof in Bad Soden. Ohne das könne er nicht leben, sagt Weber. Auftritte, Musik, Menschen, die mitgehen und aus sich rausgehen, „da steckt Action drin“. Jeder Fluss hat eben seine Stromschnellen.